Zu schwach zum Leben
Als alle Papiere fertig sind, ganz am Schluss, schaut mich die Dame Anfang 80 Jahre an und meint: „Er hat so oft zu mir gesagt, wenn ich doch einschlafen dürfte.“
Heute kam es dann überraschend. Mit dem Rollator ist er, wie immer, alleine zur Toilette. Heute schaffte er zurück bis neben das Bett. Dort rutschte er von der Bettkante und blieb, mit dem Gesicht nach unten, auf dem Teppichboden liegen.
Bei meinem Eintreffen erscheint die Ehefrau des Verstorbenen gefasst und organisiert. Der Rettungsdienst habe ein Formular da gelassen. Mat hat zusammen mit ihr im anatomischen Institut der Uniklinik angerufen. Ihr Mann hatte seinen Körper dem Institut für die Lehre angeboten. Am Telefon sagt man ihr, dass am Wochenende niemand dort ist, man wird sie jedoch am nächsten Tag zurückrufen und mit ihr die Abholung besprechen.
Auf meine Frage, ob noch reanimiert wurde, meint die Dame: „… das hat er nicht mehr gewollt. Es gibt eine Patientenverfügung und der Notarzt hat gesagt, dass man jetzt nichts mehr ohne schwere Hirnschädigung machen könne.“
Die ältere Dame erzählt weiter, mehr nach innen gewandt als direkt an mich gerichtet: „Als er dort lag, habe ich ihn gestützt und so weit hochgezogen dass er am Bettrand sitzen konnte. Erst dann habe ich gemerkt, er verstorben war. Ich hab ihn ins Bett gelegt und dann den Notarzt gerufen…“
„Mein zweiter Ehemann hatte ein schweres Leben. Er hatte eine Lungenfibrose. Brauchte seit einigen Monaten Tag und Nacht Sauerstoff. Nach einem Unfall in jungen Jahren wurde ein Bein amputiert. Sein Leben mit der Unterschenkelprothese hat er gut gemeistert. Jetzt mit dem Rollator war es zunehmend anstrengend. Seit einiger Zeit begann die Demenz und machte alle Aktivitäten noch schwerer.“
Nach einer kurzen Pause ergänzt sie: „ Aber das Anstrengendste war die Stuhlkontinenz. Wenn er merkte dass er auf die Toilette musste, war die Windel meist schon voll. Das hat ihm zu schaffen gemacht. Wahrscheinlich hat er deswegen seinen Lebensmut verloren und sich gewünscht endlich einschlafen zu dürfen.“
Jetzt kam es doch sehr plötzlich, obwohl wir beide damit gerechnet hatten. Irgendwie bin ich froh, auch wenn es jetzt schwer wird, alleine zu sein. Die Kinder leben weit weg. Sie sind aus der Zeit mit ihrem ersten Mann, der vor vielen Jahren verstorben ist. Da sei es nicht wichtig, dass sie jetzt vorbeikommen. Alleine sei sie dann jetzt schon.
Im Wohnzimmer hat sich die ältere Dame das Sofa gerichtet um die Nacht zu verbringen. Ein tiefer Frieden umgibt uns, als ich die Papiere fertig mache und mich verabschiede.